von Erich Schunk
(aus der Festschrift zum 175-jährigen Jubiläum 2008)
Der Zweite Weltkrieg hatte am 22. März 1945 für Landau ein Ende. Nachmittags war vor der Oberschule der erste amerikanische Panzer angerollt, die Soldaten hatten Kontakt zur Zivilbevölkerung aufgenommen, und am Schulgebäude war eine weiße Fahne angebracht worden. Die französische Besatzung rückte dann am 13. April ein.
Auf Befehl der Militärregierung sollte das neue Schuljahr am 1. Oktober 1945 beginnen, alle Mitglieder der NSDAP und ihrer Gliederungen waren zu suspendieren. Tatsächlich wurde der Unterricht am 19. Oktober aufgenommen. Die Schule nannte sich wieder „Oberrealschule“ und verzeichnete 530 Schüler, darunter 24 Mädchen, in 14 Klassen. Bis Januar 1946 musste man auf Unterrichtsräume in der Schule der Englischen Fräulein zurückgreifen, dann stand der Nordflügel des eigenen Gebäudes wieder zur Verfügung.
Bis Herbst 1946 wurden zwei Kurzschuljahre absolviert, ab 1946/47 stellte man auf den normalen Rhythmus um und stockte auch wieder eine neunte Klasse auf.
Der gesamte Schulbetrieb war ein Provisorium. Die Zahl der Schüler blieb hoch, die Zahl der Lehrer weiterhin niedrig. Noch im Schuljahr 1948/49, als drei „suspendierte Lehrkräfte“ wieder den Dienst aufnehmen konnten, waren sechs Planstellen unbesetzt. So musste auf zahlreiche Hilfskräfte zurückgegriffen werden. Fachsäle und Sammlungsräume nutzte man als Klassenzimmer, weshalb Experimentalunterricht nicht mehr erteilt werden konnte, und ein Jahr lang war man sogar auf einen Raum im Feuerwehrhaus angewiesen. 1946 mussten Lehrer und Schüler über 16 Jahren Aufräumungsarbeiten leisten, und bis 1949 wurde die Ernährung vor allem jüngerer Schüler mit Schulspeisungen unterstützt.
Auch die Zugehörigkeit zur französischen Besatzungszone wirkte sich aus. So war bis 1947 der Geschichtsunterricht „überhaupt untersagt“. In diesem Jahr wurde dann „die Reifeprüfung erstmals nach den Vorschriften des französischen Baccalaureats abgehalten“. Und von 1948 bis 1953 galt „das französische Notensystem von 0 bis 20 Punkten“.
Im Gründungsjahr der Bundesrepublik 1949 ging Oberstudiendirektor Dr. Petri in den Ruhestand, sein Nachfolger wurde – bis 1951 kommissarisch – Dr. Friedrich Grießbach. Ab Ostern 1950 führte die bisherige Oberrealschule die Bezeichnung „Naturwissenschaftliches Gymnasium“, ohne dass Lehrpläne oder organisatorische Struktur sich wesentlich änderten. Aber es begann ein langer Kampf um die Verbesserung der Unterrichtsverhältnisse.
Die ganzen fünfziger und sechziger Jahre hindurch stieg die Zahl der Schüler mehr oder weniger kontinuierlich an, von 574 im Schuljahr 1949/50 bis zum Spitzenwert 1033 im Schuljahr 1968/69. Die Anzahl der Klassen verdoppelte sich in diesem Zeitraum von 16 auf 32, von denen in der Regel 5–7 als „Wanderklassen“ unterwegs waren. Die Klassenfrequenzen in den 1950er Jahren waren insbesondere in den unteren Jahrgangsstufen außerordentlich hoch, meist deutlich über 40 Schüler, in einzelnen Fällen auch weit über 50. Erst in der Oberstufe, nach der Mittleren Reife, bestanden die Klassen nur noch aus 15–25 Schülern.
Im Jahre 1956 erklärte Direktor Dr. Grießbach den „Bau eines neuen, unerläßlich notwendigen größeren Schulhauses“ zur „Kardinalfrage“, die alle anderen Probleme als „nebensächlich erscheinen“ ließ. Im abgelaufenen Schuljahr habe der „gesundheitliche Zusammenbruch zweier Lehrer gezeigt, dass der Schichtunterricht, zu dem die Schule wegen ihrer Raumnot gezwungen ist, schwerste gesundheitliche Gefahren in sich birgt“. Zeitgleich hatte die Stadtverwaltung bereits einen „Architektenwettbewerb um den Neubau für die beiden Staatl. Gymnasien“ ausgeschrieben, den Dipl.-Ing. Franz Gies aus Landau gewann. Am 20. Dezember 1956 erfolgte der erste Spatenstich durch Oberbürgermeister Dr. Kraemer, und im November 1958 konnte der Neubau bezogen werden.
Allerdings stellte dieser neue Gebäudeteil am Westring nur den ersten Teil des Erweiterungskonzeptes dar. Schon nach wenigen Jahren waren die in Alt- und Neubau zur Verfügung stehenden Räume für die beiden Gymnasien wieder zu eng geworden. Wie Dr. Erich Hehr, der 1964 Dr. Grießbach als Schulleiter abgelöst hatte, ausführte, hielt „die Raumentwicklung … mit dem Anwachsen der Schülerzahl bei weitem nicht Schritt, und die Enge in unserem Hause wird fast beängstigend“. Stadt und Land freilich hielten ihre Schatullen geschlossen, der zweite Abschnitt der Erweiterung wurde nie gebaut.
Stattdessen ließ man, um Schichtunterricht zu vermeiden, Schulbaracken „(euphemistisch heißen sie Schulpavillons)“ aufstellen, in denen sechs Klassen eine Notunterkunft fanden. Dr. Hehr hoffte noch auf die Erweiterung des Neubaus und wollte „seine grundsätzlichen Bedenken gegen die Übernahme des gesamten Altbaus“ nicht aufgeben. Denn die Übergabe des ganzen Gebäudekomplexes an das Naturwissenschaftliche Gymnasium war in Aussicht genommen, seitdem der Stadtrat für das Eduard-Spranger-Gymnasium einen Neubau im Osten der Stadt beschlossen hatte. In der Übergangszeit behalf man sich ab 1968 mit der Auslagerung der Unterstufe (ca. 420–450 Schüler) in das Gebäude der früheren Harr’schen Handelsschule im Nordring. Erst 1972 entspannte sich die Raumsituation durch den Auszug des ESG, doch blieben die Baracken während einer flüchtigen Ausbesserung des Altbaus noch einige Zeit in Betrieb.
Der enorme Anstieg der Schülerzahlen seit den 1950er Jahren verweist darauf, dass schon vor Georg Pichts Warnung vor der „deutschen Bildungskatastrophe“ die Gymnasien zu einem beruflichen und gesellschaftlichen Aufstiegskanal geworden waren. Eine statistische Erhebung am Naturwissenschaftlichen Gymnasium Landau im Schuljahr 1964/65 ergab, dass jeweils fast 30 % der Schüler aus einer Beamten- oder Angestelltenfamilie stammten, bei etwa 23 % der Schüler waren die Eltern Selbständige, zu 11 % Arbeiter und zu 6 % kamen sie aus Landwirtschaft und Weinbau. Von allen Schülern waren 7,3 % Akademikerkinder, bei den Oberstufenschülern 12 %. Es rollte eine Bugwelle schulisch, über Bildung ermöglichten sozialen Aufstiegs auch durch das Gymnasium am Westring. Denn von den Abiturienten im Jahrzehnt 1955–65 wollten mehr als 70 % ein Studium aufnehmen. Die meisten wollten Lehrer (24 %) oder Ingenieur (17 %) werden, andere Medizin/Pharmazie oder Chemie bzw. Physik studieren (je 8,6 %), weniger Wirtschaftswissenschaften (7 %) oder Jura (5,8 %). Nur 4 % beabsichtigten, eine Lehre aufzunehmen, 6 % waren unentschlossen.
Nach wie vor kam auch Mitte der 1960er Jahre nur eine Minderheit der Schüler aus Landau selbst (39 %); in den Landkreisen Landau, Bergzabern und Germersheim wohnten 29 %, 19 % bzw. 10,5 %. Auch die traditionelle Struktur der Konfessionsverteilung begann sich zu ändern, von einer Dominanz der Evangelischen im Verhältnis 2:1 zu den Katholiken hin zu „einer konfessionell ausgewogenen Schule“. Schließlich veränderte sich auch die Relation Jungen – Mädchen. Die Umwandlung der Oberrealschule in eine Oberschule für Jungen im Dritten Reich hatte dazu geführt, dass Mitte der 1950er Jahre kein Mädchen mehr an der Schule war. Im Schuljahr 1956/57 stand dann eine einzige Schülerin 706 Jungs gegenüber; 1968/69 gab es 56 Schülerinnen (5 %), 1974/75 durchbrachen sie die Hunderter-Marke (111 Schülerinnen = 12,3 % aller Schüler). Bis 2007 stieg die Quote weiter an, 393 Mädchen stellten 37,7 % der gesamten Schülerschaft.
Seitdem aus der Oberrealschule im Jahre 1950 ein Naturwissenschaftliches Gymnasium geworden war, hatte die Schule noch mehrfach den Namen gewechselt: 1960 in „Staatliches Mathematisch-Naturwissenschaftliches Gymnasium“, 1966 in „Staatliches Neusprachliches und Mathematisch-Naturwissenschaftliches Gymnasium“. Eine „längere Zeit andauernde Diskussion innerhalb des Elternbeirates und Lehrerkollegiums“ führte dann zu dem Beschluss, sich nach dem Chemiker und Nobelpreisträger von 1945 „Otto-Hahn-Gymnasium“, abgekürzt „OHG“, zu nennen. Am 23. September 1967 erhielt die Schule in Anwesenheit des Namensgebers, der aus dem Stegreif eine kurze Ansprache an die Schüler hielt, ihren neuen Namen.
Gymnasiale Existenz in der demokratischen Bundesrepublik bedeutete auch Demokratieunterricht in der Schule und – über kurz oder lang – Demokratisierung in der Schule selbst.
So wurde ab 1952 „als neues aber unbenotetes Unterrichtsfach die Gemeinschaftskunde eingeführt“. Wenige Jahre später war die Fahrt der jeweiligen Oberprima nach Bonn, wo man auch einer Sitzung des Bundestages beiwohnte, zu einer „traditionellen“ Veranstaltung geworden. Während sich Schulleiter Dr. Grießbach 1961 nach „normalen“ Schuljahren sehnte, mit „Ruhe, Stetigkeit“ und möglichst wenig Reformen (von denen man im abgelaufenen Jahr „verschont geblieben“ war), gewannen in der Schülerschaft in den Folgejahren andere Vorstellungen Raum. Im Zuge der „68er“-Bewegung appellierte in seiner Abiturientenrede 1968 Werner Schwartz an die „verehrte(n) Damen und Herren des Lehrerkollegiums, von dem hohen Roß der Autorität herabzusteigen, nicht Kraft des Alters und des Amtes als Lehrer Zensuren zu geben oder Strafen zu verhängen, über die Sie jede Diskussion ablehnen“. Gerechterweise forderte er aber auch eine „Bewußtseinsveränderung bei den Schülern“ und dankte zum Schluss den Lehrern „für alle Mühe“, die man aufgewendet habe, die Abiturienten zu „demokratischer Verantwortung“ zu erziehen. Ein anderer Schüler, der 1969 ans OHG kam, erinnerte sich später an einen Lehrer, „von dem mehr als ein Schülerjahrgang zitterte“ und dessen Unterrichtsmethode an „Tyrannei“ gegrenzt habe.
So war es ein Signal, als der neue Schulleiter Dr. Werner Messerschmitt im Vorwort zum Jahresbericht 1968/69 das Schlagwort „Demokratisierung der Schule“ hervorhob und erklärte, „Erziehung zur Demokratie (sei) kein Unterrichtsfach, sondern ein Unterrichtsprinzip, bei dem alle Partner der Schule dauernd Lernende“ seien. Die Vorworte der nächsten Jahresberichte sprachen anders. Da war von einem „falsch ausgelegten Demokratieverständnis“ die Rede, und dann immer wieder gebetsmühlenhaft, dass das Schuljahr „ruhig“, „ohne Auswüchse“, „störungsfrei und harmonisch“ abgelaufen sei.
Der Aufschwung der sechziger Jahre erlahmte, obwohl 1976 für die Oberstufe das neue Kurssystem der Mainzer Studienstufe eingeführt wurde. Auch die Schülerzahlen gingen wieder zurück, bis zum Ende der siebziger Jahre um etwa ein Fünftel. In den 1980er Jahren gab es dann einen massiven Einbruch. Als Dr. Gerd Konrad 1988 die Schulleitung übernahm, verzeichnete das OHG noch 457 Schüler.
Die immer wieder aufgebrochene Diskussion um eine Veränderung der Schullandschaft in Landau betraf jedoch bald das OHG nicht mehr, denn im Zuge des allgemeinen Zulaufs zu den Gymnasien in den 1990er Jahren schnellten die Anmeldezahlen wieder empor. Jetzt schien mangels Lehrern die Unterrichtsversorgung nicht mehr gesichert. Dr. Konrad stellte 1999 in einem offenen Brief an Bildungsminister Prof. Zöllner aus seiner Sicht die Situation hinsichtlich des Unterrichtsausfalls dar; dies löste eine heftige Replik und eine breite Diskussion in der Presse aus.
Die Zahl der Schüler stieg weiter; gleichzeitig wurde gerade in den mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächern, in denen sich das OHG von jeher profiliert hatte, der Lehrermangel immer spürbarer. Als 2002 Oberstudiendirektor Emil Straßner die Nachfolge von Dr. Konrad antrat, war allerdings ein anderer Missstand zu beheben: das Schulgebäude war derart marode, dass eine Generalsanierung unausweichlich war. Unter dem außerordentlichen persönlichen Einsatz von Herrn Straßner konnte dieses Vorhaben in den Jahren 2002–05 „gestemmt“ werden. Die – von der Stadtverwaltung zunächst völlig unterschätzten – Kosten beliefen sich auf 7 Millionen Euro inklusive der neu eingerichteten Ganztagsschule. Insbesondere wurde auch auf eine adäquate Ausstattung der Fachräume geachtet. Damit konnten die Unterrichtsbedingungen für die bis zum Frühjahr 2008 auf die neue Höchstzahl von 1092 angewachsene Schülerschaft und das deutlich verjüngte Kollegium von 86 Köpfen endlich spürbar verbessert werden.